Portugal, Film, 2023

Susana
de Sousa Dias

Foto: Jasper Kettner

Mit ihren Filmen folgt Susana de Sousa Dias den Spuren einer historischen und ästhetischen Kartografie der ehemaligen portugiesischen Kern- und Kolonialgebiete – als Ansatzpunkt einer weiter gefassten Reflexion über totalitäre Systeme und als epistemische Geste, die bestehende historische Wissensstrukturen unterläuft. Von Natureza Morta (Stillleben, 2005), 48 (2009), Luz Obscura (Verdunkeltes Licht, 2017) und Fordlândia Malaise (2019) bis hin zu Viagem ao Sol (Journey to the Sun, 2022) beschäftigt sich Sousa Dias mit den Hinterlassenschaften des Estado Novo (1933–1974) – die faschistische, koloniale und korporatistische Diktatur, die sieben Jahre nach dem Militärputsch von 1926 einsetzte – und des Kolonialismus (mitsamt seinen fortbestehenden Macht- und Wissenssystemen). Formal beruht ihr Vorgehen auf dem kritisch-analytischen Einsatz von Archivmaterial – womit sie Bezüge zu den Arbeiten von Harun Farocki, Vincent Monnikendam, Yervant Gianikian und Angela Ricci Lucchi herstellt – sowie der vielschichtigen Verwendung von Bild- und Tonmaterial, das historische Gegenperspektiven eröffnet. Daneben produziert Sousa Dias auch Installationen, beispielsweise Natureza Morta/Stilleben (2010), basierend auf dem gleichnamigen Film.

48, 2009 mit dem Großen Preis des Pariser Dokumentarfilmfestivals Cinéma du Réel ausgezeichnet, ist ein Paradebeispiel für diesen Ansatz. Der Film, dessen Titel auf das achtundvierzigjährige Bestehen des Estado Novo anspielt, bedient sich erkennungsdienstlicher Fotografien politischer Gefangener und Folteropfer, die den Blick direkt – und damit fragend – auf das Publikum richten, um sie mit ihren Aussagen 50 Jahre nach dem Geschehen zu verknüpfen. Die Vergangenheit ist mit der Gegenwart verwoben, Traumata werden offenbar. Die Kommentare aus dem Off, der Schnitt, das Murmeln, Schweigen, Seufzen, die Ein- und Ausblendungen verwandeln die Archive von Orten der Macht in ein aufschlussreiches Geschehen, das den Horizont der Zeit zu durchbrechen vermag.

Zugleich hinterfragt die Filmemacherin das Bildgewebe üblicher Darstellungsformen, denn sie agiert innerhalb eines figurativen Systems antifigurativ, insbesondere in den Sequenzen, die sich der Inhaftierung mosambikanischer antifaschistischer und antikolonialer WiderstandskämpferInnen widmen, die aus den Archiven verschwunden sind. Gleichzeitig ruft das strenge formale System von 48 die Biopolitik des Faschismus in Erinnerung, indem es die historische Erfahrung der Unterdrückung durch die Spannung zwischen den visuellen und auditiven Elementen nachempfindet und damit traumatische Erfahrungen ins Bewusstsein des Publikums ruft.

Die Strategie, sich mit den Archiven in ihren materiellen, diskursiven, ideologischen und kulturellen Verläufen auseinanderzusetzen, führt zu deren Profanisierung und Verortung in ihren vielschichtigen Bezügen. Luz Obscura erweitert dieses Verfahren, indem es eine alternative Form der Sichtbarkeit schafft, die neben Archivmaterial auf die Produktion allegorischer Bilder setzt. In Fordlândia Malaise wiederum, einem Film, der sich der 1928 von Henry Ford im brasilianischen Amazonas-Regenwald gegründeten Fabrikstadt zur Herstellung von Kautschuk für die US-Autoproduktion widmet, wird durch die variierende Höhe der Drohnenaufnahmen – von der Vogelperspektive bis zu wenige Zentimeter über dem Boden gefilmten Einstellungen – die ideologische Perspektive und panoptische Dimension der Luftaufnahme als filmische Form entweiht. Auf subtile Weise eröffnet der Film Einblicke in die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen aus deren eigener Perspektive heraus.

Die Filme von Sousa Dias bieten einen alternativen, phänomenologischen Blick auf die Geschichte. Mit dieser epistemischen Geste unterstreichen sie die Berufung des Kinos, die Vergangenheit über eine Ästhetik der Zuneigung und Emotionen einfühlsam ans Licht der Gegenwart zu holen.

Text: Raquel Schefer
Übersetzung aus dem Englischen: Anna Jäger

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