Namibia / Simbabwe / Südafrika, Musik & Klang, 2021

Listening at
Pungwe

Listening at Pungwe (Memory Biwa & Robert Machiri) at Hopscotch Reading Room Berlin, photo: Irma Fadhila

Ein Archiv ohne Körper ist kein Archiv. Ein Körper ohne Archiv ist kein Archiv: Memory Biwa und Robert Machiri, bekannt als Listening at Pungwe, sind ein multidisziplinäres Kollektiv mit Tätigkeitsschwerpunkt in Windhuk (Namibia) und Johannesburg (Südafrika). In ihren Arbeiten thematisieren sie archivierte Erinnerungen – mit zarten Anklängen an Leben und Bewegung – sowie Formen der Transzendenz, die mit der überkommenen kolonialen Gewaltherrschaft und ihren Auswirkungen auf das Leben in der Gegenwart verbunden sind. Ihr Hauptaugenmerk liegt dabei auf Namibia und Simbabwe. 

Als Historikerin, Zeitzeugin und Künstlerin dekonstruiert Memory Biwa die kolonial geprägte Wissenschaftswelt und hinterfragt die in ihr verbreitete Auffassung von Archiven als statischen, lebensfernen und überwiegend unzugänglichen Erinnerungsräumen. Durch die Wiederentdeckung ihrer Materialität haucht sie Geschichten aus dem Archiv neues Leben ein, sodass diese in Gestalt mündlicher Erzählungen eine körperliche Präsenz ausbilden und sich durch Weitergabe von Generation zu Generation gegen das Vergessen behaupten können. Robert Machiri trägt mit seinen klanglichen, bildlichen und mündlich überlieferten Geschichten zum pungwe – ein aus dem Shona entlehntes Wort für „Er-Wachen“ – bei, das in einem Gefühl des Wiedererstarkens gründet: in Kisten, im Rolle-zu-Rolle-Verfahren oder am Mischpult. Gemeinsam lassen die beiden das pungwe wiederaufleben: ein Leben mit und in der Körperlichkeit von Archiven, jenseits von Raum und Zeit, dahinter und davor – als Protest gegen die koloniale Gewalt, die gemeinschaftsorientierte und spirituelle Praktiken aus den Geschichten aussondert und tilgt. Ihre Arbeit bewahrt das, was dazu verurteilt ist, vergessen zu werden. Zu diesem Zweck dient ihnen pungwe als Gedenken an chimurenga (in etwa „Revolutionskampf“), in Form einer nächtlichen Totenfeier und Neufokussierung der Lebenden auf den nahenden Morgen, auf einen weiteren Tag des Widerstands. 

Die Praxis des pungwe dringt tief unter die Erdkruste in körperliche, aufeinander bezogene Sphären vor. Es ist ein (Wieder-)(Er-)Wachen schöpferischer, fantastischer Impulse, mit denen Geschichte und Geschichten neu erzählt und erlebt werden können. Es ist ein Zwiegespräch zwischen frühen und modernen afrikanischen Klangkulturen, das aus Schriften, digitalen Maschinen, Aufnahmen im Rolle-zu-Rolle-Verfahren, mündlichen Erzählungen und anderen materiellen Quellen neue Archive schafft. Die nächtlichen Klangexperimente von Listening at Pungwe sind ein Streifzug durch Archive, der Erinnerungen aufbricht und die Toten wie die Lebenden in einer übergreifenden Erfahrung auferweckt. In ihren Performances und Installationen werden sie selbst und ihre Stimmen aus der Gegenwart ein Teil der Geschichte des Archivs. Ihr Ziel ist die De- und Rearchivierung eines lebendigen Gedenkens, das die Geister der fließenden Übergänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart beschwört. 

Stationen, an denen ihre Arbeiten aufgeführt bzw. gezeigt wurden, sind u. a. 100 Jahre Donaueschinger Musiktage, Donaueschingen, 2021; Manifesta 13, Marseille, 2020; Dak’Art Biennale, IFAN Museum of African Arts, Dakar, 2018; SAVVY Contemporary, Berlin, 2018; Colonial Repercussions: Reflecting on the Genocide of the Ovaherero and Nama Peoples 115 Years Later, Swakopmund, 2019; Museum of Science and Technology (MST), Accra, 2017; ICA Live Art Festival, Cape Town, 2017; John Muafangejo Arts Centre, Windhuk, 2017; Deutschlandfunk, Deutschland, 2019.  

Text: Kamila Metwaly

Übersetzung: Stefan Hollstein

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