Mexiko, Musik & Klang, 2025, in Berlin
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Interspecifics

Interspecifics ist ein transdisziplinäres Forschungsatelier, dessen Praxis Kunstproduktion, experimentelle Pädagogik und Maschinenbau umfasst. Das in Mexiko-Stadt ansässige Kollektiv verbindet Biologie, künstliche Intelligenz und DIY-Elektronik, um neue Formen der Kommunikation und Kognition zu erforschen. Trotz der großen methodischen Vielfalt zieht sich das Element des Klangs wie ein roter Faden durch ihr Werk – sei es als integraler Bestandteil von Installationen, Live-Performances, Netzkunst oder KI-generierten Werken. Die Praxis von Interspecifics ist stark von der fließenden Materialität und Ästhetik des Klangs geprägt.
Seit der Gründung durch Paloma López und Leslie García im Jahr 2013 konzentriert sich die Forschungspraxis des Kollektivs auf die Handlungsfähigkeit und Intelligenz nichtmenschlicher Wesen – von Mikroorganismen und Schleimpilzen bis hin zu Pflanzen, atmosphärischen Strömungen und darüber hinaus. Diesem Ansatz liegt die Überzeugung zugrunde, dass Lebensformen und technische Systeme gleichermaßen Signale und Muster hervorbringen, die auf überraschende und oft hoch ästhetische Weise genutzt werden können. Im Zuge der Ausweitung der Forschung auf eine komplexe Verflechtung von Datenanalyse, generativer KI und Mikrobiologie erweiterte Interspecifics sein Team um Emmanuel Anguiano, Felipe Rebolledo und Alfredo Lozano.
Ein zentrales Element ihrer Arbeitsweise ist die methodische Fokussierung auf Open-Source-Tools und den freien Wissenstransfer. Interspecifics entwickelt anwendungsspezifische Hard- und Software, mit der unterschwellige Biosignale – elektrische Impulse, Stoffwechselnebenprodukte oder Umweltschwankungen – erfasst und in akustischen oder visuellen Dimensionen dargestellt werden können. Rohdaten aus der Natur werden mittels Interfaces, die auf iterativen Prozessen und experimentellen Prototypen beruhen, in sinnliche Erfahrungen übersetzt. Exemplarisch dafür ist ihr Projekt AIRE (2016-2020), das die Luftqualität und Umweltverschmutzung in Mexiko-Stadt, Bogotá und São Paulo anhand von Live-Datenquellen analysiert und die Ergebnisse in audiovisuelle Formate überträgt.
Die forschungsbasierte Praxis von Interspecifics bricht in vielerlei Hinsicht mit anthropozentrischem Denkweisen. Anstatt sich auf menschenzentrierte Narrative zu beschränken, schaffen sie Raum für andere Seinsweisen und betonen das kreative Potenzial, das freigesetzt wird, wenn wir die Pluralität der Intelligenzen anerkennen, die die Welt bilden. In Kombination mit physischen Computerplattformen offenbaren die von Interspecifics entwickelten KI-gesteuerten Prozesse überraschende Parallelen zwischen lebenden Organismen und digitalen Netzwerken. Dies ist beispielsweise der Fall bei dem Projekt Codex Virtualis (2021-23), das im Rahmen des European ARTificial Intelligence Lab in Kooperation mit dem SETI Institute und Ars Electronica entstanden ist. Codex Virtualis ist eine sich kontinuierlich erweiternde, GAN-generierte Taxonomie spekulativer Lebensformen, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen der Evolutionsbiologie beruht. Indem Interspecifics die lebensähnlichen Eigenschaften von Algorithmen der organischen Komplexität natürlicher Systeme gegenüberstellt, werden entscheidende Fragen bezüglich unserer Definition von „Leben“ aufgeworfen.
Die Forschung von Interspecifics nimmt eine radikale Neubewertung unserer Beziehung zur Technologie und zur nichtmenschlichen Welt vor. Dabei spiegelt dieser Ansatz das wachsende kulturelle Interesse an ökologischem Bewusstsein und nicht-menschlichen Perspektiven wider. Unter bewusster Vermeidung einer Romantisierung des Forschungsgegenstandes bemüht sich das Kollektiv um eine ausgewogene Sichtweise, die empirische Genauigkeit mit fantasievoller Spekulation verbindet. Ihre Methodik integriert die Unberechenbarkeit biologischer Systeme, die kritische Verwendung von KI und die kreativen Potenziale, die sich aus ihrer Interaktion ergeben. Das Ergebnis ist ein sich ständig weiterentwickelnder Werkkomplex, der disziplinäre Grenzen in Frage stellt, unsere Vorstellung des Möglichen erweitert und eine tiefere Wertschätzung für die miteinander verflochtenen Ökologien fördert, die alle Lebensformen erhalten.
Das Kollektivstipendium wird ermöglicht durch die Matschinsky-Denninghoff-Stiftung unter dem Dach der Berlinischen Galerie.