Großbritannien, Musik & Klang, 2022

Elaine
Mitchener

Foto: Jasper Kettner

Elaine Mitchener (MBE) ist eine der originellsten und markantesten Künstlerinnen unserer Zeit. Die klassisch ausgebildete Sängerin ist experimentelle Vokalistin, Improvisatorin, Komponistin, bildende Künstlerin und Bewegungskünstlerin. Als Schwarze britische Staatsbürgerin der ersten Generation nimmt Mitchener auf revolutionäre TheoretikerInnen der afrikanischen Diaspora ebenso Bezug wie auf die europäische Avantgarde. Ihr ästhetischer Ansatz ignoriert die willkürlichen Unterteilungen, die die Kulturindustrie dem Spektrum menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten aus Gründen der Vermarktung und der Rentabilität auferlegt. Stattdessen entfaltet sie eine Gesamtkunst, die mit ganzer Kraft die Grenzen und das Ausdruckspotenzial von Stimme und Körper in Performances auslotet, um eine neue dynamische Form des experimentell-politischen Musiktheaters auf die Bühne zu bringen.

Mitcheners Kunst bedient sich einer persönlichen Katharsis, um sich mit historischen Traumata auseinanderzusetzen. Im Kern hegt sie den Wunsch, die Gesamtheit der menschlichen Erfahrung und des Menschseins zum Ausdruck zu bringen, divergente Formen von Wahrheit und Schönheit zu zeigen und das Publikum mit Ideen und Erfahrungen zu konfrontieren, die es verändern und aufrütteln, um den Status quo zu überwinden und durch etwas Besseres zu ersetzen.

Geboren und aufgewachsen im Osten Londons als Tochter von aus Jamaika nach Großbritannien eingewanderten Eltern, sang sie als Jugendliche in Gospelgruppen und studierte später klassischen Gesang am Trinity Laban Musik- und Tanzkonservatorium. Seit den 2000er Jahren ist sie hauptberuflich als Performerin tätig. Zu ihren wichtigsten Stücken gehören Sweet Tooth, das sich mit dem Erbe des transatlantischen Versklavungs- und Zuckerhandels auseinandersetzt, und The Then + The Now = Now Time, das sich mit „Eingedenken“, Walter Benjamins Konzept des Erinnerns als staatsbürgerlicher Verantwortung, beschäftigt. Zu ihren wichtigsten Produktionen 2022 gehören die Klanginstallation [NAMES II] An Evocation, die derzeit als Teil der British Art Show 9 auf Tournee ist und an jene versklavten AfrikanerInnen erinnert, die im Jamaika des 18. Jahrhunderts als „Besitz“ des britischen Plantagenbesitzers Simon Taylor galten, sowie Women’s Work, ein Konzert zum Internationalen Frauentag, das, von Annea Lockwoods und Alison Knowles’ gleichnamigem Buch inspiriert, in der Londoner Wigmore Hall präsentiert wurde, wo Mitchener als Gastkünstlerin tätig ist. Mitchener ist außerdem Kuratorin des London Contemporary Music Festival und unterrichtet Komposition an der Londoner Guildhall School of Music. Als Komponistin sind ihre Klangwerke in einer von George E. Lewis kuratierten Sammlung in Darmstadt vertreten, des Weiteren wurde sie von europäischen Festivals wie MaerzMusik, Donaueschinger Musiktage und Sons d’hiver mit der Produktion neuer Werke beauftragt.

Mitchener arbeitet regelmäßig mit KomponistInnen wie Jennifer Walshe, George E. Lewis und Tansy Davies, bildenden KünstlerInnen wie Sonia Boyce, Christian Marclay und The Otolith Group, den Kammerensembles Apartment House, Ensemble MAM und Klangforum Wien, der Compagnie des Choreografen Dam van Huynh sowie experimentellen MusikerInnen wie Moor Mother, Loré Lixenberg, Pat Thomas, Jason Yarde und Neil Charles, mit dem sie The Rolling Calf gründete, eine elektroakustische Improvisationsgruppe, die eine weitere neue Plattform der Schwarzen Avantgarde bildet.

Text: Tony Herrington
Übersetzung: Anna Jäger

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