Türkei, Musik, 2016

Turgut
Erçetin

Foto: Kai Bienert

Komponierte Akustik

Der türkische Komponist und Klangforscher Turgut Erçetin rückt ganz bewusst akustische Aspekte des Klangs in den Fokus seines Schaffens. Klang einerseits in der differenzierten Schichtung und komplexen Wechselwirkung einzelner Frequenzen, andererseits aber auch in der Dynamik eines sich in Zeit und Raum verändernden Phänomens.


1983 in Istanbul geboren, wuchs Turgut Erçetin in dieser Metropole zwischen Orient und Okzident auf. Prägend wurde für ihn aber nicht nur der interkulturelle Transferraum, sondern im Besonderen auch die spezifische Klanglandschaft der Stadt: „I grew up in Istanbul, and it’s soundscape basically infects my music“. Über Klang nachzudenken, heißt für ihn zugleich, über die konkreten Zeitstrukturen nachzudenken. Zeitstrukturen, die sich über akustische Transformations- und Resonanzphänomene entfalten und erfahrbar werden. Bereits das Spiel mit Echo und Nachhall erweitert für Turgut Erçetin den kompositorischen Raum – Tonimpulse oder Tonkaskaden können sich zu ständig bewegten Feldern verdichten. Dabei interessiert es ihn nicht allein, Klänge zu analysieren und anschließend zu re-konstruieren, sondern vielmehr akustische Phänomene strukturell zu gestalten. Raumakustische Qualitäten wie die der Hagia Sophia in Istanbul werden so etwas zu kompositorischen Aspekten, die computergestützt prozessualisiert werden können.
Aus dem Studium am Center for Computer Research in Music and Acoustics an der Stanford University entsprang bereits 2011 das Streichquartett Nr. 1 „December“, das durch live-Elektronik neue Qualitäten der musikalischen Interaktion hervorrief. Die vier Musiker sind über die Elektronik miteinander verknüpft, sodass der je eigene Instrumentenkorpus zugleich auch Resonanzraum für den jeweils Anderen ist. Gezielt können Einzelfrequenzen oder ganze Frequenzbänder einer Schichtung verstärkt, eingefärbt oder ausgelöscht werden und es entstehen mikrotonale Schwebungen und harmonische Akzentverlagerungen in der Binnenstruktur des Hörbaren.
Turgut Erçetin untersucht also die psychoakustisch komplexen Beziehungen zwischen Raumwahrnehmung, musikalischer Interaktion und der Akustik spezifischer Umgebungen. Dieser analytisch-synthetische Zugriff eröffnet Möglichkeiten, jeden musikalischen Moment nicht nur Schicht für Schicht aufzubauen, sondern auch „akustische Perspektiven“ und Tiefenstrukturen im Klang zu gestalten. Der kompositorische Prozess beginnt dabei nicht selten mit der Gestaltung algorithmischer Strukturen, die im Verlauf der Arbeit sensible Differenzierungen herausschälen. Zentral wird für den Komponisten damit das Interesse an der individuellen Wahrnehmung des akustisch-zeitlichen Kontinuums, das immer in Relation zu spektralen Transformationen steht. Erst die aufmerksame Beobachtung dieser Wirkbeziehungen bietet dem Komponisten einen künstlerischen Weg, der das Werden von Klangereignissen gestaltet.
Turgut Erçetins Werke schaffen Klangräume komponierter Akustik, die sich aus dem Zusammenspiel von nuancierten Spektren und akustischen Perspektiven entwickeln. „Komplexität“ entsteht hier nicht allein durch die organisierte Klangschichtung, sondern vielmehr durch eine kompositorisch strukturierte Binnendifferenzierung akustischer Zuständen und Bewegungen.

Text: Fabian Czolbe

Vergangen

  • Panopticon Specularities
    Turgut Erçetin

    2019, CD

    Erçetin war 2016 Gast des Berliner Künstlerprogramms. In dieser Zeit konnten zwei neue Werke für die Vokalsolisten Stuttgart und das Ensemblekollektiv realisiert werden – »Im Keller« und »Panopticon Specularities«. Neben diesen beiden Werken ist auf der CD sein zweites Streichquartett zu hören, interpretiert vom Arditti Quartett. Alle Titel sind Live-Mitschnitte von Aufführungen beim mikromusik festival der Jahre 2016 und 2017. Besonders aufschlussreich sind die zwei verschiedenen Raumfassungen, die von »Im Keller« auf der Platte enthalten sind.

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