Belarus, Literatur, 2011

Swetlana
Alexijewitsch

„Mein Held ist die Wahrheit“: So parierte Swetlana Alexijewitsch zu Beginn ihrer literarischen Laufbahn den Angriff eines Zensors, der ihr die Entheroisierung des Krieges übelnahm, und dieser Satz könnte als Motto über ihr gesamtes beständig wachsendes Werk stehen – Die Autobiographie einer Utopie oder die Geschichte des roten Menschen, eine imponierende, auf sieben Bände angelegte Chronik, die vom Zweiten Weltkrieg bis in unsere unmittelbare Gegenwart reicht und im Schicksal von Individuen die Befindlichkeit ganzer Gesellschaften und Epochen spiegelt.


Die weltweit hochgeschätzte Schriftstellerin, die bereits für den Literaturnobelpreis im Gespräch war und allein in Deutschland etliche Auszeichnungen erhalten hat – unter anderem den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung im Jahr 1998 – wurde aufgrund dieses unbedingten Strebens nach Wahrheit in ihrer Heimat immer wieder zensiert, angefeindet und vor Gericht gezerrt. Seit Lukaschenkos Machtantritt 1994 durfte kein einziges ihrer Bücher in Weißrussland erscheinen. Dafür werden sie in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt, während die Autorin als ebenso kämpferische wie sprachmächtige Gegnerin des totalitären Regimes seit Jahren im Ausland leben muss, in Italien, Frankreich, Schweden oder Deutschland.
1948 als Tochter einer Ukrainerin und eines Weißrussen in Iwano-Frankowsk geboren, arbeitete sie nach ihrem Studium an der Universität Minsk zunächst als Journalistin und Lehrerin. Ihr erstes Buch, Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, vollendete sie bereits 1983, aber es konnte erst 1985 erscheinen, als die Perestroika eingesetzt hatte, und selbst dann zunächst nur in einer verstümmelten Fassung. Es geht um die Frauen, die im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gekämpft haben, etwa eine Million Soldatinnen, von deren Schicksal die Öffentlichkeit nichts ahnte. Swetlana Alexijewitsch befragte Hunderte und hielt ihre Erinnerungen fest. Damit füllte sie nicht nur eine wesentliche Lücke in der Geschichtsschreibung, sondern wendete zum ersten Mal ein literarisches Verfahren an, das vom weißrussischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Ales Adamowitsch inspiriert wurde: Sie ließ einen Chor von Zeitzeuginnen erklingen, setzte eine Vielzahl von Perspektiven zu einem höchst differenzierten Bild zusammen, so kunstvoll wie wirklichkeitsgetreu. Diese einzigartige Form von poetisch verdichteter Dokumentation ist eine wirksame Waffe gegen das Vergessen und Verdrängen, aber auch gegen propagandistische Lügen, die über Generationen verbreitet wurden, und das Totschweigen, das bis heute in Diktaturen an der Tagesordnung ist. Sie selbst charakterisiert ihre Methode wie folgt: „Das Leben bietet so viele Versionen und Interpretationen für ein und dasselbe Ereignis – Fiktion oder Dokumentation allein reichen nicht aus, um die ganze Bandbreite zu erfassen. Ich musste eine andere narrative Strategie finden. … Für Außenstehende mag es wie ein simpler Vorgang aussehen: Die Leute haben mir eben ihre Geschichten erzählt. Aber es ist nicht ganz so einfach. Es ist wichtig, was du fragst und wie du es fragst und was du wahrnimmst und was du aus dem Interview auswählst.“
Swetlana Alexijewitsch‘ einfühlsame Art der Befragung fördert längst Verschüttetes wieder zutage, sie schafft für ihre Gesprächspartner einen Schutzraum, in dem selbst das Persönlichste, Schmerzlichste, zuweilen auch Peinlichste preisgegeben werden kann, kleinste Seelenregungen und überwältigende Gefühle, Geschichten von Verlust und Verrat, vom Töten und Sterben, von unermesslichem Leid, aber immer wieder auch von Liebe, zwischen Mann und Frau, Mutter und Kind, Liebe zu Mensch und Tier und Gott, Liebe zum ewig gefährdeten Leben.
In ihrem zweiten Buch Die letzten Zeugen ließ sie Menschen zu Wort kommen, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebt hatten und ihn aus ihrer damaligen Perspektive schildern, ohne zu werten. Umso stärker tritt die absurde Grausamkeit eines Krieges hervor, in dem Kinder mitansehen müssen, wie ihre Eltern erschlagen oder aufgehängt und ihre Dörfer niedergebrannt werden, während sie selbst dem Tod oft nur mit knapper Not entkommen.
Davon, dass heutige Machthaber aus den beiden Weltkriegen nichts gelernt haben, zeugt das dritte Buch Zinkjungen (1991), Tausenden von jungen Soldaten aus allen Ecken der Sowjetunion gewidmet, die zwischen 1979 und 1985 in Afghanistan gefallen sind und klammheimlich in schlichten Zinksärgen zurückgeführt wurden. Von den verheerenden Folgen des Feldzugs sollte die Bevölkerung möglichst nichts erfahren, so dass die unermüdliche Aufklärerin Swetlana Alexijewitsch nach ihrem Tabubruch wegen Verleumdung und „Besudelung der Soldatenehre“ angeklagt wurde. In dieser Zeit vollzog sich ihre endgültige Wandlung zur kompromisslosen Pazifistin: „Seitdem kann mich niemand mehr zwingen zu glauben, dass es gerechte Kriege gibt. Nirgendwo. Krieg – das ist Wahnsinn, legitimierter Wahnsinn, legitimiertes Verbrechen. Und im 21. Jahrhundert ist keinerlei Rechtfertigung von Krieg mehr möglich. Der Irak – da sind wir nicht ins 21. Jahrhundert gegangen, sondern zurück!“
Von einem grenzüberschreitenden Krieg ganz anderer Art erzählt ihr bislang letztes Buch Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, an dem sie über Jahrzehnte gearbeitet hat. Im Westen ist uns kaum bewusst, dass Weißrussland infolge des Reaktorunfalls zu einem Drittel radioaktiv verseucht ist und jeder fünfte Weißrusse gesundheitliche Schäden davongetragen hat. Eine Situation, die durch die Lügen der Regierung Lukaschenkos verschlimmert wird, denn sie verhindert bis heute die Information und wirksame Behandlung der Betroffenen. Wie schnell das „friedliche“ Atom sich zum tödlichen Atom wandeln kann, hat man sich weder im Osten noch im Westen ausmalen können. Schon aus diesem Grund sollte man dieses Buch lesen, das die „unsichtbare“ Katastrophe durch eine Vielzahl von Augenzeugen – Liquidatoren, Soldaten, Kinder und Alte, Mystiker und Rationalisten – in ihrem ganzen Ausmaß erlebbar macht und uns für künftige Entwicklungen sensibilisiert. Swetlana Alexijewitsch bringt es hellsichtig auf den Punkt: „Wir verwandeln uns – von einer Zivilisation der Angst in eine Zivilisation der Katastrophen. Der Fortschritt ist gefährlich geworden, für den Menschen und für die Natur.“

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Aus dem Russischen von Johann Warkentin. Henschel Verlag, Berlin 1987. Neuübersetzung von Ganna-Maria Braungardt: Berlin Verlag, Berlin 2004
Die letzten Zeugen: Kinder im Zweiten Weltkrieg. Aus dem Russischen von Gisela Frankenberg. Verlag Neues Leben, Berlin 1989. Neuübersetzung von Ganna-Maria Braungardt: Aufbau Verlag, Berlin 2005
Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen. Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1992
Im Banne des Todes. Geschichten russischer Selbstmörder. Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994
Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko. Berlin Verlag, Berlin 1997, Neuausgabe 2006
Gespräche mit Lebenden und mit Toten. Hörspielbearbeitung von Frank Werner, Regie: Ulrich Gerhardt, Sprecher: Ilse Strambowski, Peter Gavajda u.v.a. Audiobook. dhv Verlag, München 2000

http://alexievich.info/en/

https://www.youtube.com/watch?v=BGE-FBMc2FM

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