Frankreich / Venezuela, Literatur, 2021

Miguel
Bonnefoy

Photo: Jasper Kettner

Miguel Bonnefoy wurde am 22. Dezember 1986 in Paris geboren – ein Umstand, der so vielen einschneidenden politischen und persönlichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts geschuldet ist, dass es naheliegend war, sie zu einem zentralen Thema seines Schreibens zu machen. Sohn einer venezolanischen Diplomatin und des linken chilenischen Aktivisten Michel Bonnefoy, der unter Pinochet gefoltert wurde und nach Frankreich ins Exil ging, wuchs der Autor auf jenen transatlantischen Pfaden auf, die auch seine literarischen Figuren fortwährend in die eine oder andere Richtung bereisen: Über Lissabon ging es nach Caracas und später wieder zurück nach Paris, wo Bonnefoy an der Sorbonne Literatur studierte und – wie einige berühmte lateinamerikanische SchriftstellerInnen vor ihm – in der Sprache seines Geburtslandes sein künstlerisches Ausdrucksmittel fand.

Biografisch wie literarisch ist der zweisprachige Autor so hybrid wie die literarischen Traditionen, an die seine drei bislang erschienenen Romane anknüpfen: Elemente des Magischen Realismus mischen sich mit einer präzisen Beobachtungsgabe und einem eleganten Stil Proust’scher Prägung, pikareske AbenteurerInnen in den Meeren und Wäldern Amerikas mit dem Blick für die bürgerlichen Sphären und Interieurs des alten Frankreichs. Folgen die ersten beiden in Venezuela spielenden Romane, Le voyage d’Octavio und Sucre noir, noch stärker einer ungezügelten und fast barocken Erzähllust über die Karibik mit ihren Piraten und Naturschätzen, entwirft vor allem Bonnefoys drittes, 2020 erschienenes Werk mit dem vielsagenden Titel Héritage ein raffiniertes und geradezu universelles Panorama globaler Migrationsgeschichte(n) des 19. und 20. Jahrhunderts.

In einer packenden Familiensaga über vier Generationen spürt der Autor der eigenen Herkunft vor dem Hintergrund der großen historischen und politischen Verwerfungen der Moderne zwischen Chile und Frankreich nach. Dabei sind Phänomene der Entwurzelung und Verpflanzung ganz wörtlich zu nehmen: Der französische Urgroßvater tauscht Ende des 19. Jahrhunderts als kleiner Weinbauer nach der Vernichtung seiner Reben durch eine Schädlingsplage die Hänge des Jura-Gebirges gegen die fruchtbaren Ebenen des Andenvorlands von Santiago de Chile ein. Aus Odessa wiederum wandert die jüdische Urgroßmutter mit einer anderen, sich über London und Buenos Aires und dann weiter bis an den Pazifik ergießenden Migrationswelle zu. Doch auch am Ende der Welt wird die Familie immer wieder von den Ausläufern der großen historischen Ereignisse eingeholt: Die Söhne und Töchter (!) kämpfen in den Weltkriegen für die alte Heimat Frankreich. Bonnefoys geschulter Blick für die Ironie der Geschichte fängt die Absurditäten dieser zwischen den Welten Wandernden wunderbar ein, etwa wenn sich unversehens in den Schützengräben von 1918 zwei Jugendfreude aus Santiago in französischer und deutscher Uniform gegenüber stehen und sich nur daran erkennen, dass einer von beiden auf Spanisch flucht.

Auch Miguel Bonnefoys Werke sind von dieser Vielsprachigkeit durchzogen, immer wieder drängen sich die chilenischen und venezolanischen Ausdrücke in die elegante und zugleich mitreißende französische Prosa des Autors. Und so sind seine Sprache und seine Geschichten über die verschlungenen Pfade der Migration zwischen Europa und Lateinamerika so unterhaltsame wie tiefgründige Erforschungen dieser so universellen wie zeitgenössischen Erfahrung des Menschen und seiner globalen Wanderungsbewegungen.

Text: Benjamin Loy

Héritage
Rivages, Paris, 2020

Sucre noir
Rivages, Paris, 2017

Jungle
éditions Paulsen, Paris, 2016

Le voyage d’Octavio
Rivages, Paris, 2015

El viaje de Octavio
Monte Ávila, Caracas, 2016 (Ü: Amelia Hernández Muiño)

Icare et autres nouvelles
Buchet/Chastel, Paris, 2013

Naufrages
Quespire, Paris, 2012

Vergangen

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