Ungarn, Literatur, 2010

István
Kemény

István Kemény, 1961 in Budapest geboren, wuchs zu Zeiten des ungarischen „Gulaschkommunismus“ auf – nach dem blutig niedergeschlagenen Aufstand von 1956 und vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. Lange ließen die Grenzen sich nur in der Vorstellung überwinden, und so zeugen bereits die frühen Gedichte István Keménys von schrankenloser Gedankenfreiheit, nicht selten erschafft er ganz eigene Welten, zugleich wurzelt sein Werk tief in der geografischen und historischen Wirklichkeit.

Ursprünglich wollte er an der renommierten Eötvös Loránd Universität Jura studieren, wechselte dann aber zu den Studienfächern Ungarische Literatur, Sprachwissenschaften und Geschichte, eine Kombination, die sich für sein Werk als äußerst fruchtbar erweisen sollte. Seinen ersten Gedichtband veröffentlichte István Kemény 1984 unter dem Titel Csigalépcsõ az elfelejtett tanszékekhez („Wendeltreppe zur vergessenen Fakultät“). Schon mit den frühen Publikationen hielt er Einzug in die erste Riege der ungarischen Autoren seiner Generation, mit einer für damalige Verhältnisse stupenden Geschwindigkeit. Über Jahre war seine Wohnung Treffpunkt für junge Schriftsteller, so dass er auch einen entscheidenden Beitrag zur Vermittlung ungarischer Gegenwartslyrik ins Ausland leisten konnte. Mit seiner Unterstützung gaben die Dichter und Übersetzer Orsolya Kalász und Gerhard Falkner 1999 die Gedichtanthologie Budapester Szenen in Deutschland heraus, als Ungarn Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war. Seither ist István Kemény auch hierzulande präsent, neben einem Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Wiepersdorf durch Gedichtveröffentlichungen in der Zeitschrift Kafka, diversen Tageszeitungen und in der Berliner Anthologie des Verlags Vorwerk 8 Das Andenken, die Bilder der Erde. Außer Gedichten verfasst er Essays, Kurzgeschichten und Drehbücher, schreibt regelmäßig Beiträge für die wichtigsten ungarischen Literatur- und Kulturzeitschriften (unter anderem Élet és irodalom und Magyar Narancs) und hat einen experimentellen Roman veröffentlicht, Az ellenség müvészete („Die Kunst des Feindes“, OA 1989). Seit einigen Jahren führt er Interviews mit älteren Familienangehörigen und hat auf mehr als hundert Tonbändern Erinnerungen aufgezeichnet. Diese Erinnerungen umfassen anderthalb Jahrhunderte europäisch-ungarische Geschichte, István Kemény plant auf Grundlage dieses Materials einen großen Familienroman. Doch auch im kürzesten Vers scheint das einzigartige Geschichtsbewusstsein auf, mit dem er Versailles und Venedig in einem Atemzug heraufbeschwört oder serbische Bauern auf der Tragfläche eines abgestürzten Bombers tanzen lässt.
Der Literaturwissenschaftler Guillaume Métayer, der viele von Keménys Gedichten ins Französische übersetzt und den Auswahlband Deux fois deux herausgegeben hat (Paris 2008), sieht in diesem Dichter einen Bewahrer des europäischen Geistes, nicht allein vor den Verheerungen der kommunistischen Diktatur, sondern inzwischen auch vor dem nicht minder zerstörerischen Diktat des freien Marktes. Mit seinem Werk erzeugt er Métayer zufolge ein ganz neues Spannungsfeld zwischen Humor und Melancholie, nutzt die Möglichkeiten surrealistischer Verfremdung ebenso wie die lebendige Umgangssprache, schöpft aus dem reichen Reservoir von Mythologie und Historie, ist Prophet und Hüter der Erinnerung. Dabei erobert er der Poesie längst verlorene Gattungen zurück, vom Epos bis zur Satire. Tatsächlich knüpft Kemény in seinen mittlerweile acht Lyrikbänden einen Weltenteppich aus vielerlei Strängen und Motiven. Selbstbewusst begibt er sich in jungen Jahren auf Gilgamesch‘ Spuren, der herrschenden Doktrin nach ein Irrweg, aber nicht für das lyrische Ich auf seiner existentiellen Suche. Bei ihm wird die Französische Revolution ebenso gegenwärtig wie die ungarischen Freiheitskämpfe. Die Ansprache des geliebten Vaters wechselt sich in seinem Werk mit einem anderen Vaterbild ab, das, halb bedrohlich, halb leutselig, aus dem Schulbuch grüßt. Ein Gedicht des ungarischen Nationalhelden Sándor Petöfi inspiriert ihn zu einer so kurzen wie treffenden Analyse des seelenzersetzenden Spitzelwesens. Der Teufel geistert durch die Jahrhunderte, im November tauchen Feen am Waldsaum auf, während in einer amerikanischen Kleinstadt ein Engel in der Pinakothek schwarz wird. In etlichen Gedichten erscheint ein (schwarzes) Flugzeug am Himmel, mal Zeichen des Krieges, mal Vorbote eines Herzinfarktes – Kemény findet für das Private wie für das Politische eindrückliche Bilder und setzt sie so kunstsvoll ein, dass komplexe Zusammenhänge ohne Reduktion anschaulich werden. Es sind starke Visionen, die oft beiläufig entworfen werden, verblüffende Einsichten, deren absurder Witz keineswegs über die offenbarten Abgründe hinwegtäuscht: „Plötzlich war das Plastik da/ obwohl es niemand nie erfunden hatte (…) Plastik hatte keine Eltern./ Es wuchs in Heimen auf./ Niemand hat es je geliebt (…) Wir benutzten es als Einkaufstasche,/ als Luftballon, als fast alles,/ aber wenn man es beschimpfte, verteidigten/ wir es nicht./ Aus Rache ist es nie verschwunden,/ Es grinste uns nur aus Dornensträuchern an,/ und nahmen wir es in der Dämmerung als Totenschädel,/ brachte es Schande über den Tod.“
Für sein Werk, das so originell wie traditionsgesättigt ist, so vielseitig wie unverwechselbar, wurde István Kemény bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem bedeutendsten Literaturpreis Ungarns, dem József Attila-díj.

Veröffentlichungen in deutscher Übersetzung

Nützliche Ruinen. Célszer? romok. 23 Gedichte Deutsch Ungarisch. Übertragen von Orsolya Kalász, Monika Rinck, Gerhard Falkner, Steffen Popp. Gutleut Verlag, Frankfurt am Main und Weimar, 2007

Vergangen

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