USA, Musik, 1963

Frederic
Rzewski

Als Frederic Rzewski (geb. 1938 in Westfield, USA; gest. 2021 in Montiano, Italien) 1963 zum Antritt seines Stipendiums nach Berlin kam, war er zwar erst 25 Jahre alt, hatte sich aber bereits international als Pianist einen Namen gemacht – unter anderem mit den Interpretationen der Klavierstücke von Karlheinz Stockhausen. Zudem galt er als begnadeter Improvisateur und brachte entsprechende Elemente in seine Kompositionen mit ein. Der Komponist Dieter Schnebel erinnert sich in einem Vorwort zur Veröffentlichung der Schriften Rzewskis an den jungen Künstler: „Ich weiß nicht mehr genau, wann und wo ich Frederic erstmals begegnet bin. 1963 in Palermo? Jedenfalls spielte er 1964 die Uraufführung von ,Espressivo‘, meinem Musikdrama für einen Klavieristen, im Münchner Werkraumtheater. Er war jung, wilde Haare, Bart! […] Die Aufführung war stark, eindrucksvoll – und schockierend. Er war gleich von Anfang an ein großer Performer und höchst virtuoser Pianist.“

Bis zu den 1960er Jahren hatte Rzewski vor allem für sein eigenes Instrument, das Klavier, komponiert. Das Stipendium in Berlin sollte es ihm ermöglichen, sich konzentriert auch mit Werken für andere Instrumente zu beschäftigen. In seinem Requiem, das er 1963 vorläufig abschloss und 1967 noch einmal überarbeitete, spielte das Klavier zwar wieder eine wichtige Rolle. Darüber hinaus kamen hier aber ein Sprecher, ein Männerchor und ungewöhnliche Perkussionsinstrumente wie Maultrommel, Röhrenglocken und Schwirrholz zum Einsatz. In der Zeit seines Stipendiums entstanden außerdem die Stücke Nature Morte für kleines Orchester (1964) und Speculum Dianæ für acht Improvisationsmusiker (1964). 

Rzewski, der in den USA als Sohn polnischer Einwanderer geboren wurde, begann bereits im Alter von fünf Jahren Klavier zu spielen und schon als Kind erarbeitete er erste Kompositionen. Als er zehn war, entdeckte er in einem Plattenladen in der Nähe der Wohnung seines Klavierlehrers die Werke von Schostakowitsch und Schönberg für sich – und damit auch seine Liebe zur zeitgenössischen Musik. Diese führte ihn 1956 mit gerade einmal 18 Jahren zu den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, wo er auf junge Komponisten wie Christian Wolff, Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono traf. Seine Neugier auf die neuesten Strömungen führte ihn zudem nach New York zu John Cage und Morton Feldman. Noch während seines Studiums in Harvard und Princeton begann er, seinen Lebensunterhalt als Pianist zu verdienen. 1960 führte ihn ein Stipendium ein weiteres Mal nach Europa, wo er in Italien bei Luigi Dallapiccola seine Studien fortsetzte.

1963, als Rzewski nach Berlin kam, war die Stadt seit zwei Jahren streng durch eine schwer bewachte Grenze und eine Mauer geteilt. Ihm als amerikanischem Staatsbürger standen allerdings beide Seiten der Stadt offen. Im Sommer 1964 lernte Rzewski bei einem Kongress für elektronische Musik Gerhard Steinke aus der DDR kennen, der ihm anbot, im elektronischen Studio in Adlershof eine Komposition zu realisieren. Das Studio trug den kuriosen Namen „Labor für Akustisch-Musikalische Grenzprobleme“, und Grenzprobleme waren es auch, die diese Zusammenarbeit gehörig nach hinten verschoben. Erst im August 1965 konnte Rzewski aufgrund der schwierigen Kommunikation zwischen dem Ost- und Westteil der Stadt seine Arbeit in Adlershof aufnehmen. Zur Verfügung stand ihm dort ein besonderes elektronisches Musikinstrument: das Subharchord. 1965 galt dieser „Synthesizer der DDR“ als technisches Wunderwerk, das ganz neuartige klangliche Möglichkeiten bot. Damit arbeiten zu können, war für Rzewski eine große Chance. Hundertdreißig Stunden verbrachte er im Labor für Akustisch-Musikalische Grenzprobleme, um seine Komposition mit dem Titel Zoologischer Garten von 23 Minuten Länge zu vollenden – zu Zeiten von Bandmaschinen, Oszillatoren und Rauchgeneratoren eine bahnbrechend kurze Zeit für ein solches Projekt. Frederic Rzewski verarbeitete darin u. a. seine Eindrücke von der geteilten Stadt, wie er 1966 in einem Text über die Entstehungsgeschichte des Stückes schrieb: „Der Grenzübergang an der Friedrichstrasse konnte […] Minuten oder auch eine gute Stunde dauern. Die Zeit, die ich in der S-Bahn verbrachte, und mehr noch das Ein- und Aussteigen am Bahnhof Zoo müssen meinem Bewusstsein ein gewisses Gefühl von Dauer und Wechsel eingeprägt haben, welches, wie ich jetzt sehe, das eigentliche Material meiner Komposition geworden ist.“

Eigentlich hätte Zoologischer Garten im Februar 1966 im Radio ausgestrahlt werden sollen, doch politische Verwerfungen brachten es mit sich, dass die elektronische Musik in der DDR in Ungnade fiel. Rzewskis Werk erfuhr also zunächst keine öffentliche Aufführung und verschwand bis weit nach der Wende in der Schublade, bevor die elektronische Komposition im Rahmen einer Wiederentdeckung des Subharchords ab 2007 doch noch eine späte Anerkennung erfuhr.

Text: Friederike Kenneweg

Vergangen

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