Mexiko, Literatur, 2018

Antonio
Ortuño

Foto: Álvaro Moreno

Blickt man auf ihre Zahl und das Elend, das die heutigen Migranten um eines besseren Lebens willen zwangsweise hinzunehmen bereit sind, so scheinen nunmehr sie die‚ Verdammten der Erde’ zu sein. Der Journalist und Schriftsteller Antonio Ortuño – er selbst kam 1976 als Sohn spanischer Immigranten in Guadalajara, der zweitgrößten Stadt Mexikos, zur Welt – weiß davon ein Lied zu singen. Jedes Jahr versuchen nicht zuletzt auch Tausende Menschen aus Mittel- und Südamerika in die USA zu fliehen – ihre Route führt sie unter anderem durch Mexiko. Immer wieder werden sie auf dieser Reise missbraucht und misshandelt, ausgeraubt oder ermordet, oder sie fallen dem Menschenhandel zum Opfer.

Das Viertel, in dem Ortuño groß wurde, lag seit je an der Bahnstrecke einer der großen Schienenarterien quer durch Mexiko. Schon als Kind sah er die Güterzüge, auf die Migranten aufsprangen. Seitdem ließ und lässt ihn das Thema nicht los; weder als Journalist noch als Schriftsteller. In „Die Verbrannten“ (dt. 2015) – dem vierten Roman des in Mexiko als Ausnahmetalent geltenden Autors, der 2006 mit Aplomb seinen ersten Roman vorlegte – führt Ortuño seine Leser direkt in die Hölle dieser Verdammten; Auslöser für den Roman war ein Massaker 2010, bei dem 72 Migranten von einer jugendlichen Killerbande getötet wurden. Auch Yein, eine junge Frau aus San Salvador und die weibliche Hauptfigur in „Die Verbrannten“, hofft auf ein besseres Leben in den USA. Doch noch auf mexikanischem Boden werden sie und ihr Mann von der Polizei geschnappt und in der fiktiven Kleinstadt Santa Rita in ein Durchgangslager für illegale Asylanten gesteckt. In Santa Rita herrscht allerdings ein veritabler Krieg zwischen rivalisierenden Schleuserbanden. Als die Notunterkunft angezündet wird und fast alle Insassen bis auf Yein ermordet werden, schickt man die Sozialarbeiterin Irma, um den Fall zu klären. In ihr – und der Journalistin Luna – findet Yein eine Verbündete. Sie hat sie dringend nötig, denn der Feind ist mächtig. Es ist der Staat selbst: Die offizielle Politik reagiert auf die Morde mit beschwichtigender Abwiegelung – die Opfer selbst werden vielmehr kriminalisiert. Nach und nach legt Irma respektive Ortuño die abgründigen Strukturen und Mechanismen eines Staates bloß, in dem Schlepper, Drogenkartelle und Behörden, Kriminelle, Politiker und Polizisten gemeinsam Geschäft mit den wehr- und rechtlosen Opfern machen. Der staatlichen Ignoranz, dem inhärenten Rassismus und der damit einhergehenden Menschenverachtung setzt der virtuos komponierte Roman – der weder der Reportage noch dem Dokumentarischen gehorcht – seine mutige Hellsichtigkeit entgegen: In kurzen, aus der Sicht jeweils unterschiedlicher Figuren erzählten Kapiteln montiert Ortuño einen vielstimmigen Chor. Das Erzähltempo ist hoch; seine karge klare Sprache setzt auf bewusst irritierende Registerwechsel; dem grausamen Realismus des Romans stehen surrealistisch anmutende Passagen gegenüber. Gekonnt vermeidet Ortuño zugleich jeden billigen oder plakativen Effekt. Im Gegenteil: „Die Verbrannten“ liefert nicht nur eine „Momentaufnahme mexikanischer Verhältnisse“, so Thomas Wörtche (Weltempfänger 28/2015). Unmissverständlich zeigt Antonio Ortuño, dass ein Staat, der sich abschottet, die niedrigsten Instinkte nährt – und jene Gewalt schürt, die zu verhindern er vorgibt. Gewalt zieht sich wie ein roter Faden auch durch den Roman „Madrid, Mexiko“ (dt. 2017), die so blutige wie brutale Geschichte einer spanischen Familie, die der Spanische Bürgerkrieg ins Exil zwingt und deren Lebenswege Ortuño über mehrere Jahrzehnte hinweg verfolgt. Madrid 1923, Mexiko-Stadt 1946, Guadalajara 1997 und Toledo 2014 sind die Stationen; Migration, Ausgrenzung und Korruption bilden erneut eine explosive Mischung. Die Parallelisierung zwischen dem Spanischen Bürgerkrieg von einst und den Drogenkriegen der Gegenwart, von denen Mexiko heimgesucht werden, ist Absicht: In einem Interview, das der Autor 2016 der spanischen Zeitung „El País“ gab, verwies er auf die Tatsache, dass die Situation in seiner Heimat sich einem Szenario nähere, das bedenklich an den einstigen Spanischen Bürgerkrieg erinnere. Der Roman – der zwei Hauptfiguren in kurzen Episoden folgt, die zeitlich vor- und zurückspringen und immer dichter ineinander verwoben werden – wirkt dabei wie eine Mischung aus Thriller, Abenteuer- und Generationenroman: Die Sprache ist bildhaft, der Stil kinoartig – man fühlt sich, darauf weist Hans Christian Riechers in seiner SWR2-Besprechung hin (Buchkritik, 22.8.2017), teilweise wie in einem der frühen Filme des mexikanischen Regisseurs Alejando González Iñarritu. Dennoch trägt, so Riechers, auch „Madrid, Mexiko“ eine unverkennbar sozialkritische Signatur: Die scheinbar Schwachen widersetzen sich – wie schon in „Die Verbrannten“. Und: Ortuño legt nahe, dass unter gewissen Umständen alle zu Verbrechern werden können. Sein Mexiko ist uns insofern vielleicht näher, als uns allen lieb ist. Ein Grund mehr, warum man die Romane dieses großartigen Autors unbedingt lesen sollte.

Text: Claudia Kramatschek

Die Verbrannten. Roman. Aus dem Spanischen von Nora Haller. Kunstmann Verlag, München 2015.

Madrid, Mexiko. Roman. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein. Kunstmann Verlag, München 2017.

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