Vietnam, Literatur, 2023, in Berlin

Nhã
Thuyên

Foto: Jasper Kettner

Nhã Thuyên ist eine Dichterin, Essayistin, Herausgeberin, Verlegerin im Kleinstverlag und unerschrockene Forscherin auf den Pfaden der vietnamesischen Sprache. Ihr als Gestaltwandlerin heraufbeschworenes Alter Ego sucht Gräber auf, wühlt sich ohne Unterlass durch karges Land, um eine unterirdische Quelle aufzutun, klopft an stumme Türen, spricht mit den Toten und erzählt Geschichten, die „die Lebenszeit der Dorfältesten verlängern, die Einsamen mit ihren verstorbenen Lieben zusammenführen, Liebende vereinen, Kinderlachen, so bezaubernd wie die Morgensonne, auslösen und das Grün des Grases zum Leuchten bringen …“.

1986, zu Beginn der vietnamesischen „Erneuerung“ geboren und in der Zeit des aufkommenden Internets aufgewachsen, hinterfragte Nhã Thuyên schon früh in ihrer literarischen Laufbahn durch ihre rätselhaften Prosagedichte in Ngón Tay Út (Kleiner Finger, 2010) die Vorstellung von Grenzen zwischen Rand und „Zentrum“, Hanoi und Saigon, Vietnam und der vietnamesischen Diaspora. Diese Einstellung prägte auch ihre akademischen Forschungen – ihre 2010 geschriebene Masterarbeit in Philologie trägt den Titel: Marginaler Ort: Die poetische Praxis der Open Mouth Group aus kultureller Perspektive. 2011 erhielt sie ihren Abschluss, der ihr jedoch im März 2014 vom Staat aufgrund ideologischer Einflussnahme öffentlich entzogen wurde.

Danach konnte sich Nhã Thuyên lange Zeit nicht dazu durchringen, Vietnamesisch zu verwenden. Sie hatte das Gefühl, die Sprache sei ihr gewaltsam entfremdet worden, was sie wort- und orientierungslos machte. Doch schließlich holte ihre Leidenschaft sie wieder ein. Sie erweiterte ihre Masterarbeit und veröffentlichte die überarbeitete Version 2019, als eine Art Zeugnis, sowohl auf Englisch als auch auf Vietnamesisch unter dem Titel un\\martyred: [self-]vanishing presences in Vietnamese poetry / bất \\\ tuẫn: những hiện tượng [tự-] vắng trong thơ Việt. Nhã Thuyên setzte ihren wissenschaftlichen, vom Staat brutal verleugneten Leistungen ein Denkmal, um die Idee des Märtyrertums bewusst abzulehnen. Die „Selbstauslöschung“ im Titel verweist andererseits auf die uralte Tradition, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen, wenn dessen erdrückende Anforderungen die eigene moralische Integrität bedrohen.

Nhã Thuyêns Beschäftigung mit experimentellen Stimmen bedeutet keinen Bruch mit älteren poetischen Traditionen. Sie interessiert sich vielmehr dafür, welche Vergangenheit(en) und welche kollektiven Erinnerungen es auszugraben gilt. Die repressive Geschichte Vietnams ließ vieles verschütt gehen, nicht zuletzt die Werke der zahlreichen DichterInnen und KünstlerInnen, die von der Zensur und/oder durch Inhaftierung zum Schweigen gebracht wurden. So ist das Gespräch zwischen der Erzählerin und ihrem toten Vater in „bụi“ (Staub) aus dem Buch vị nước (Geschmack des Wassers, 2022) eine Hommage an eine vergessene literarische Vergangenheit. Es erinnert an eine Szene in „Hai Kẻ Đào Huyệt“ (Zwei Totengräber, 2008), in der zwei kleine Kinder kurz in die frisch ausgehobenen Gräber ihrer Eltern hinabsteigen, nur um fröhlich wieder hinauszuhuschen. In ähnlicher Weise reflektierte sie kürzlich als Gastredakteurin des Online-Poetry-Showcase Ù Ơ/ Suo (2022) über die von vietnamesischen (Groß-)Müttern gesungenen Wiegenlieder als Ausflug zu den Quellen der poetischen Sprache und des alltäglichen Rituals.

In Nhã Thuyêns poetischem Universum kann das Vietnamesische so intensiv sein wie ein Anfall von Mondfieber, so lästig wie ein zu enger Durchgang oder so explosiv wie das Schlagen des eigenen Herzens. Während die wandelbare Widerstandsfähigkeit der vietnamesischen Syntax Nhã Thuyên in ihrem Geburtsland verankert, segeln ihre übersetzten Werke – metaphorische Schiffe, die in der Mythologie mit Hängebauchschweinen verglichen werden, um die Erfüllung von Wünschen zu veranschaulichen – gleichmäßig dem fernen Horizont entgegen.

Text: Đinh Từ Bích Thúy
Übersetzung: Anna Jäger

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