Inger Christensen wurde 1935 in Vejle, Dänemark, geboren. Sie studierte zunächst Medizin, ließ sich dann zur Lehrerin ausbilden und war 1963–64 an der Kunsthochschule in Holbæck tätig. Obgleich sie auch einen Roman, Erzählungen, Essays, Hörspiele, ein Drama und ein Opernlibretto verfasste, ist Christensen vor allem für ihre sprachgewaltige Lyrik bekannt.
Mit dem Bänden "Lys" (1962; Licht) "Græs" (1963; Gras), die stark von der modernistischen Metaphorik der sechziger Jahre beeinflusst sind, und in denen es um die Ortsbestimmung des lyrischen Ichs im Verhältnis zur natürlichen und kulturgeschaffenen Wirklichkeit geht, wird Christensen erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Die ebene, gleichförmige Landschaft Dänemarks, deren Pflanzen und Tiere, der Strand, das Meer, die schneereichen Winter haben die Topographie vieler ihrer Gedichte bestimmt. Auch international bekannt ist Christensen spätestens seit Erscheinen des Langgedichts "Det" (1969; Det/Das, 2002), einer Art Schöpfungsbericht über die Entstehung der Sprache und der Welt, der sich auf über zweihundert Seiten um das eine Wort "es" reiht. Das Buch zeigt deutlich den Einfluss so unterschiedlicher Autoren wie Lars Gustafsson, Noam Chomsky, Viggo Brøndal, R.D. Laing und Sören Kierkegaard auf Christensens Arbeit als Lyrikerin. Die Analogie zwischen der Entfaltung der poetischen Sprache und dem Wachstum des Lebens ist ähnlich wie schon in "Det" auch das Grundmotiv des Gedichtbandes "Alfabet" (1981; Alfabet/Alphabet, 1988). Neben dem titelgebenden Alphabet selbst, nach dem die Anfangsbuchstaben der vierzehn Abschnitte des Buches angeordnet sind, ist die so genannte Fibonacci-Folge strukturbildend, bei der jede Zahl aus der Summe der beiden vorangehenden besteht. Die Komposition spiegelt genau das Thema wider: Verwies "Det" auf das "Am Anfang war das Wort" der Schöpfungsgeschichte, so steht hier das Alphabet als Hinweis auf das "A und O" der Apokalypse.
Lebens- und Werkgeschichte eröffnen den Zugang zu einer Lyrik, die zugleich schwierig und verschlossen und doch wieder einfach und elementar ist. Inger Christensen ist eine der reflektiertesten und formbewußtesten Lyrikerinnen der Gegenwart; ihre Ideengeschichte gibt zugleich Aufschluss über die Paradoxie der Lyrik, mit den Mitteln der Poesie lesbar zu machen, was notwendig unlesbar bleiben muss, und dem universalen Labyrinth auf diese Weise eine partikulare Ordnung abzuringen. Dabei sind die Übergänge zwischen der Dichterin und der Essayistin Christensen fließend: So wie lyrische Figuren und Motive ihren Essays eine eigene Dichte geben, kehren Gedankenfiguren und Ideenkonfigurationen in den Gedichten als organischer Bestandteil wieder.
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