Argentinien, Film, 2020

Lucrecia
Martel

Foto: Valeria Fiorini

Jeder Film von Lucrecia Martel ist ein Ereignis. Es sind geheimnisvolle, mit höchster Diskretion gefilmte Werke (Martel hat eine geradezu sprichwörtliche Vorliebe für das Geheimnis), die hohe Erwartungen wecken. Aber diese lang ersehnten Filme besetzen stets die unmöglichsten Orte (mit denen nicht einmal Martels bedingungsloseste ZuschauerInnen rechnen). Das ist eines der Merkmale, das sie als Filmemacherin so einzigartig macht: Ihr Stil ist so unverwechselbar wie die Welten, in die sie vordringt, doch jeder Film ist eine Überraschung, ein Wagnis, eine neue Herausforderung, die sowohl die Erfahrung der ZuschauerInnen als auch den ästhetischen Werdegang ihrer Regisseurin noch eigenartiger macht.

Nach einem vielversprechenden Kurzfilm, Rey muerto (Toter König, 1995), einer Western-Version der bedrückenden Provinzwelt, die eines ihrer Markenzeichen werden sollte, debütierte Martel mit La ciénaga (Morast, 2001): zweifellos das mächtigste, vollkommenste und einflussreichste Erstlingswerk des Neuen Argentinischen Kinos. Martel machte ihre ersten Schritte und schien schon alles zu wissen. Was sie filmte, war unvergleichlich. Als wahrhaft programmatischer Film legte La ciénaga den Grundstein für ihre weiteren Werke: La niña santa (Das heilige Mädchen, 2004), La mujer sin cabeza (Die Frau ohne Kopf, 2008), Zama (2017). Es sind wenige Filme – vier Langfilme in zwanzig Jahren –, doch alle originell, anregend, ungewöhnlich, verstörend.

La ciénaga ist Salta, die Stadt im Norden Argentiniens, in der Martel zur Welt kam, mit ihrem im Niedergang befindlichen Bürgertum, ihren versehrten Familien, ihren feuchtheißen und sich selbst entfremdeten Sommern – der perfekte Nährboden für dieses Geflecht kleiner Geschichten, Gerüchte, Ressentiments und Glaubensbekenntnisse, die Martels Kamera wie keine andere aufzuzeichnen versteht. All diese Dinge machen ihre Arbeit aus, aber an erster Stelle steht die Faszination für das Lokale, für die Art und Weise, wie gesprochen wird, wie Beziehungen entstehen, für Rituale, Protokolle, endemische Lebensformen, die Martel mit der Präzision einer Entomologin seziert und in der Echokammer der Gegenwartsgesellschaft zum Schwingen bringt.

Ihr Charakteristikum ist ein singulärer „provinzieller Kosmopolitismus“, der mit absolutem Blick und Gehör die – schamhaften, stummen, stets drohenden – Erschütterungen des jeweiligen Ortes einfängt und mit den kritischen Debatten der globalen Agenda verbindet. Schon in La ciénaga findet sich auch ihre Vorliebe für den Kreislauf, die Vermischung, den Austausch von class, gender, Alter, Spezies. Wider die strengen Hierarchien einer archaischen Gesellschaft ist bei Martel alles mit allem in Berührung: class mit gender, das Verlangen mit der Macht, die Verwandtschaft mit der Sexualität, der Verstand mit dem Wahnsinn, die Kultur mit der Natur. In La niña santa sind das Begehren und das Heilige allzu vertraute Nachbarn, zwei Seiten desselben Schwindels; in La mujer sin cabeza verbrüdert sich die Ehre mit der Schuld und dem Verbrechen; in Zama, Martels erstem Ausflug in den Historienfilm, ist die (Welt-)Geschichte eine Halluzination, purer Rausch: die Hochebene, auf der ein Kolonialbeamter ausharrt und zwischen Hunden, Frauen, Ausländern, Pferden, Schwarzen, Indigenen langsam verblutet. Bei Martel gibt es keine Grenzen oder es gibt sie nur als unbeständige, poröse Zonen, die mehr verbinden, als dass sie trennen. Ihr Kino ist ein Laboratorium auseinanderstrebender Koexistenzen.

Due to the Corona pandemic, Lucrecia Martel was unable to begin her fellowship in Berlin.

Text: Alan Pauls
Übersetzung: Timo Berger

1995: Rey Muerto
(Kurzfilm )

2001: La ciénaga
(Spielfilm)

2004: La niña santa
(Spielfilm)

2008: La mujer sin cabeza
(Spielfilm)

2017: Zama
(Spielfilm)

2019: AI
(Kurzfilm)

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