Belarus, Literatur, 2025, in Berlin
Julia
Cimafiejeva

„wir konnten euch nicht mitnehmen, / ihr beinlosen häuser. / wir konnten euch nicht auf unseren schultern davontragen, / ihr frisch bestellten gärten“ – wer die politischen Entwicklungen in Belarus seit der gefälschten Präsidentschaftswahl vor Augen hat, könnte vermuten, diese Zeilen der Dichterin und Übersetzerin Julia Cimafiejeva, die Ende 2020 gemeinsam mit ihrem Partner, dem belarusischen Schriftsteller Alhierd Bacharevič, dank eines Writers-in-Exile-Stipendium nach Graz kam, sprechen vom Verlust der Heimat im Exil. Doch das Gedicht wurde vor 2020 geschrieben, es thematisiert nicht den Fallout der Diktatur, sondern – der Titel „1986“ verrät es – den Fallout einer anderen Ortlosigkeit, der Katastrophe von Tschernobyl.
1982 geboren, wuchs Cimafiejeva in einem Dorf im Südosten von Belarus auf, als Kind sogenannter Umsiedler mit eigenem Dialekt, nachdem die Familie ihr Haus in der verstrahlten Region im Süden verlassen musste. Auf diese erste Entwurzelung sollten weitere folgen– auch sprachliche, die das Werk der Autorin nachhaltig prägten und ihr die produktive Unruhe eines poetischen „wanderzirkus“ einpflanzten. Nach der ländlichen Dorfwelt, in der Trasjanka gesprochen wurde (eine Mischung aus Belarusisch und Russisch), kam die Zeit des Gymnasiums in der Stadt, wo man „kompetent und richtig Russisch“ zu sprechen hatte. Also folgte die nächste Entwurzelung, wie Cimafiejeva in einem Essay schreibt – „dass ich das Unkraut der Trasjanka aus meinem Kopf tilgen musste“. Belarusisch wiederum galt in dieser Sphäre als „kulturlos“, bis die Autorin beim Studium der Anglistik und Literaturwissenschaft in Minsk erlebte, wie es zur Sprache der Literatur und des Austauschs wurde. Sie entschied sich, wie viele AutorInnen in dieser Zeit, in dieser Sprache zu schreiben. Gleichzeitig begann sie, Lyrik aus dem Englischen und Norwegischen zu übersetzen.
Dieser sprachliche Abriss redet keiner biografischen Lesart das Wort, sondern zielt ins Zentrum von Cimafiejevas Poetik, dem „zelt“ der ortlosen Buchstabenakrobaten, in dem die Zunge wie ein „bewegliches jünglein“ tobt. Ihre Gedichte stehen für die poetische Mobilität einer feministischen, kosmopolitischen Mehrsprachigkeit, die Muttersprache und Herkunftsenge hinterfragt. Denn das Vaterland hatte schon vor 2020 mit seiner patriarchalen, staatsmännisch geprägten Dichtertradition keine Verwendung für „den körper der dichterin“, wie das gleichnamige Gedicht schnippisch feststellt. Und in dem Gedicht Mother Tongue heißt es: „Du gabst mir das Leben – ich eröffnete darin eine Schule / für Fremdsprachen.“
Seit 2014 erschienen vier Gedichtbände auf Belarusisch und etablierten Cimafiejeva als eine der wichtigsten Stimmen ihrer Generation. Auf Deutsch bieten die Bände Zirkus (2019) und Der Angststein (2022) im verdienstvollen Verlag edition.fotoTapeta eine repräsentative Auswahl; die 2021 auf Englisch verfasste Protest-Chronik Minsk. Tagebuch (2021) und der künstlerisch gestaltete Fotoband Minsk. Die Stadt, die ich vermisse (2022)legenZeugnis ab von Widerstand und erzwungenen Heimatlosigkeiten. Berühmtheit erlangte Cimafiejevas auf dem Höhepunkt der Proteste auf Englisch veröffentlichtes Gedicht My European Poem. Die US-amerikanische Übersetzung ihrer Gedichte Motherfield: Poems & Belarusian Protest Diary (2022) wurde für den PEN Award for Poetry in Translation und den Derek Walcott Prize for Poetry nominiert.
Die zurückgelassenen Häuser mögen beinlos sein, Cimafiejevas Metaphern, von denen ihre kraftvollen Gedichte leben, sind es nicht: Sie eilen durch Jahrhunderte wie eine „straße die nach innen wächst“ und „unter sich berge wirft“. In den Sedimenten entziffern die Gedichte die Nachwirkungen ökologischer und politischer Gewalt auf Sprache, Körper und Träume der Nachgeborenen. Mit dem Rhythmus der Ruhelosen bergen sie den „zirkus zwischen buchseiten“, auf dass wir ihn aus großer Nähe lesen können.
Uljana Wolf