Italien, Literatur, 2021

Francesca
Melandri

Foto: Heike Steinweg

Francesca Melandris Bücher erfüllen nicht das Wunschbild einer mediterranen Genreliteratur, wie sie immer wieder Herzen erwärmt. Sie handeln nicht primär von Liebe, Leidenschaft, südlicher Lebensart, Frauenfreundschaft oder gesellschaftlichem Aufstieg. Sie greifen politische Ereignisse auf, verhandeln exemplarische Momente der jüngeren italienischen Geschichte. Das klingt nach Journalismus, ist es aber nicht. Melandri ist Erzählerin, sie montiert Episoden von Einzelpersonen vor dem Hintergrund realer Geschehnisse.

Die Montage als Bauprinzip ist dabei vermutlich eine Erbschaft aus ihrer Arbeit für Film und Fernsehen. Mit der Erfahrung des Drehbuchschreibens machte Melandri sich an ihre ersten Romane. Drei davon hat sie bisher veröffentlicht: Eva schläft, Über Meereshöhe und Alle, außer mir (die Titel jeweils in deutscher Übersetzung). Sie selbst bezeichnet sie als die »Trilogie der Väter« und will damit andeuten, dass es einen größeren Plan gibt, der ihre Werke zusammenhält, so verschieden in Ansatz und Thematik sie auch erscheinen.

Hier ist eine wache Zeitgenossin am Werk, die ein erzählerisches Netzwerk spinnt, in dem die Charaktere vor dem Hintergrund der modernen italienischen Gesellschaft in ihren Katastrophen und Krisen als Individuen erkennbar bleiben. Sangue giusto (Alle, außer mir) ist ihr bisher umfangreichster Roman, ein Panorama der Geschichte Italiens im zwanzigsten Jahrhundert, der in seiner Hauptfigur den Bogen von Faschismus und Kolonialkrieg (Abessinien) über die wechselnden Regierungsperioden der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart schlägt, mit den Flüchtlingswellen und dem Politzirkus des heutigen Italiens.

Der Kolonialismus ist in Italien noch immer das Verdrängte, man spricht nicht gern über die eigenen imperialistischen Sünden. Mussolinis Bündnispolitik mit Hitler, Italiens Rolle als Glied der sogenannten »Achsenmächte«, hatte die Gesellschaft bis in ihre proletarischen und bürgerlichen Tiefen gespalten. Melandri weiß das, und sie legt eine Sonde in diese Tiefen, ganz unauffällig übrigens. Und da ist noch etwas, über das keiner sprechen will. Alle, außer mir, der deutsche Titel ihres Erfolgsromans verwischt es eher, er zielt nur auf den Patriarchen, die Vaterfigur Attilio Profeti, der die Protagonistin Ilaria, eine Lehrerin in ihrer Familiengeschichte nachspürt. Der Originaltitel Sangue giusto verrät mehr: Es geht in allem, was da erzählt wird, um das »richtige Blut«, also um einen untergründigen Rassismus, der die Struktur der italienischen Gesellschaft damals wie heute sichtbar macht. Eines Tages taucht da ein Bastard auf, ein äthiopischer Flüchtling, der aber mehr ist als nur einer der vielen Migranten, und bringt eine römische Familie durcheinander. Was Melandri gelingt, mit einem einfachen dramaturgischen Trick, ist ein Sittenbild der heutigen italienischen Zustände. Wie wäre es, fragt man sich als deutscher Leser, wenn bei einer Architektin aus Essen, Abgeordneten der Grünen oder Chemikerin aus Dresden plötzlich ein russischer Neffe erschiene, der ihnen von seiner Großmutter erzählte, Putzfrau in einer der Kantinen der Wehrmacht, und von ihrem Großvater, den alle nur als unbescholtenen Kriegsheimkehrer und treuen Ehegatten kannten? Was Melandri mit ihrem Roman versucht hat, ist eine Art politischer Psychoanalyse, nach dem Motto Alexander Kluges: »Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage.«

Text: Durs Grünbein

Vergangen

zum Seitenanfang