USA, Literatur, 2025, in Berlin
Claudia
Rankine

Claudia Rankine gelten Pronomen als die wichtigsten Wörter – Pronomen, diese Platzhalter für Namen, Namen, die bereits selbst Platzhalter für diejenigen sind, auf die sie sich beziehen.
Die Kraft von Pronomen besteht für Rankine in der Weise, wie sie Fragen des Seins, Werdens und Dazugehörens anstoßen.
Betrachten wir beispielsweise das englische Pronomen „us“ (wir/uns), den Objektfall des Plurals der ersten Person „we“ (wir) – beide Pronomen vermitteln Zugehörigkeit und Verwandtschaft, wobei die Wirkung, wenn wir „us“ sagen, eher nach innen als nach außen gerichtet ist. Das indirekte Pronomen erzeugt eine Perspektive derer, von denen gesprochen wird, nicht jener, die sprechen. Daher erzittert die Autorität in „us“ ein wenig, von seiner Objektposition ins Wanken gebracht.
In ihrem jüngsten Buch Just Us zeigt Rankine, dass die Bedingung dafür, „us“ zu sagen, eine politische Angelegenheit ist – und damit eine Rolle für die Staatsordnung spielt –, ebenso wie eine menschliche und literarische. (Der Titel Just Us ist außerdem ein Wortspiel mit dem ähnlich klingenden Wort „justice“ – Gerechtigkeit.) In ihrem gesamten Werk hat Rankine Pronomen in einer Weise aktiviert, die das, was die lyrische Form zu leisten vermag, reformiert. Dabei schafft sie nicht eine*n Sprecher*in auf der einen oder Adressat*innen auf der anderen Seite, sondern eine Lesebedingung voller Lebendigkeit und Schwierigkeit und Unbehagen und Zuwendung, die dazu einlädt, über das Leben in der modernen Welt, über das (eigene) Leben im komplizierten, gewöhnlichen Alltag der gegenwärtigen Existenz auf Erden nachzudenken.
Rankine animiert Wörter wie „us“ oder „you“ (du/ihr), also die direkte Anrede, die ein Ausdruck der Zuneigung wie der Abhängigkeit ist und damit einer Vertrautheit. „You“ zu sagen, bedeutet, eine Poetik der Ansprache und des Wissens zu schaffen, die vor Intensität vibriert. Ein „you“ kann sowohl Singular als auch Plural bezeichnen und damit zahlreiche Verbindungen umfassen. Diese Eigenschaft macht es zu einer adäquaten Syntax in Rankines lyrischem Duett Citizen und Don’t Let Me Be Lonely. Und während uns ihre Texte zu uns selbst befragen, verschiebt Rankine den Fokus weg von dem, was wir über „them“ (sie) zu sagen geneigt sind. Die Errungenschaft eines kollektiven Namens hat nichts Simplifizierendes oder Anmaßendes an sich, es ist nichts Einfaches an dieser Poetik, auch wenn sie ganz gewöhnlich ist.
Claudia Rankine schreibt Gedichte über das menschliche Jetzt, obwohl es angemessener scheint zu sagen, dass sie die lyrische Form nutzt und überprüft, mit ihr experimentiert, um die Empfindungen des Alltags aufzufächern. Im Vorwort zu Don’t Let Me Be Lonely bemerkt Rankine:
Ich schrieb bewusst aus einer Position des unvollständigen Wissens und Verstehens heraus, wobei ich zwar nichts genau wusste, aber alles fühlte. Ich ließ zu, dass Zögern, Besorgnis, Ängste, Befürchtungen und Bedürfnisse zu meinen Themen wurden, wo immer ich eine oder alle dieser Emotionen sah, hörte oder fühlte. Die Stücke wurden zu einer Sammlung von Bewegungen in der historischen Gegenwart, die ich in meinem eigenen Leben und im Leben anderer im Öffentlichen wie im Privaten beobachtet habe. Zunächst verstand ich die Stücke als Betrachtungen von Ereignissen, mittlerweile als Klagelieder in Echtzeit. Schließlich begann ich, die Texte als emotionale Ausdrucksformen von Augenblicken zu verstehen und nicht so sehr als Aufzeichnungen eines einzelnen Lebens. Es handelte sich um Gedichte mit historischer Tragweite. Einsamkeit und Gewalt überschwemmten unsere Tage, so empfand ich es jedenfalls. Angst trieb unser Handeln und unseren Stillstand an. Für einige von uns war die Angst ein Vorwand für Grausamkeit, für andere war Angst gleichbedeutend mit Terror. Der Verlust blieb immer derselbe.1
Wir brauchen eine Poetik des Alltäglichen und Gewöhnlichen, und Rankines Zeilen bieten sie. Ihre Ästhetik kommt der Faszination und Begegnung eines Händedrucks nahe, wie wir in ihrem Dialog mit dem Dichter Paul Celan lesen:
Oder Paul Celan sagte: „Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht“ – von Rosmarie Waldrop so übersetzt: I cannot see any basic difference between a handshake and a poem. Händeschütteln ist unser entschiedenes Ritual zur Bekräftigung (hier bin ich) und zur Übergabe (hier, nimm) des Selbst an den Anderen. Daher ist ein Gedicht genau das: Hier, nimm. Hier bin ich. Die Verschmelzung von konkreter Präsenz mit der Darbietung derselben hat vielleicht viel, alles, mit leben zu tun.
Oder eine Bedeutung von „hier“ lautet „in der Welt, in diesem Leben, auf Erden; an diesem Ort, in dieser Lage, jemandes Anwesenheit anzeigend“, mit anderen Worten: Ich bin hier. Es zeigt auch an, dass jemandem etwas überreicht wird: Hier, nimm. Hier, sagte er zu ihr. Hier erkennt an und fordert Anerkennung. Ich sehe dich, oder: Hier, sagte er zu ihr. Wer etwas überreichen will, muss die Hand ausstrecken, und es muss eine Hand es entgegennehmen. Wir müssen dazu beide hier in dieser Welt in diesem Leben an diesem Ort sein und unsere Anwesenheit anzeigen.2
Rankines Schriften vermitteln die Energie des gewöhnlichen Sprechens und Denkens, sie kanalisieren, wie eine Person, die denkt, hadert und fühlt, Erfahrungen verarbeiten und sich in der Komplexität des Wissens verfangen kann. Nach Rankines Verständnis ist es nicht so, dass wir etwas wissen, nur weil uns etwas widerfahren ist; nein, daraus, wie wir das Geschehene ergründen und erzählen, entsteht eine weitere Facette des Geschehens. Eigentlich gelangen wir zu Wissen, weil wir zwischen diesen beiden Bedingungen des Erlebens oszillieren. Wie Rankine erläutert, „ist die Verwendung der ersten Person […] eine Strategie, auf die ich beim Versuch gekommen bin, eine Form von Intimität und Wendigkeit in den Prosagedichten selbst zu erhalten. Die erste Person schien vielmehr ein Ruder zu sein als ein authentisches Ich, wie es mir in der traditionellen Dichtung beigebracht worden war.“3
Wahrheit ist zugleich präzise, einfach und flüchtig. Schön und schrecklich. Dringend und dumpf, und bisweilen kaum wahrnehmbar, wie in der Zeile „Jemand hat das gesagt. Jemand hat das getan.“4 So mächtig kann sie sein.
Rankines Bücher sind Kunstobjekte, die so gestaltet sind, dass sie den Eindruck dessen, was man in den Händen hält, verstärken – sie verdeutlichen die Wirkung des Lesens. Natürlich ist das Buch als energiegeladenes materielles Objekt weder ein Ersatz für eine oder mehrere Personen noch ein Einblick in das Leben eines anderen Menschen. Nein, das Buch ist eine Bedingung für das Lesen, die Anforderungen an die Lesenden stellt. Es ist ein Raum, den man verantwortungsvoll betritt. Auffallend an Rankines Büchern ist ihre materielle Textur – das Papier ist häufig dick und schwer, von ungewöhnlicher Form und Größe; Wörter werden mit Bildern und leeren Flächen kombiniert. Diese Eigenschaften verstärken die Funktion des Buchs als Objekt und Raum der Schwebe.5
Diese Elemente von Rankines Werk heben ihre einzigartige Identität als Dichterin und Kritikerin hervor, als Künstlerin, deren Lyrik Kritik ausübt und deren Kritik sich in das schöpferische Innenleben des Lyrischen ausdehnt. Sie lotet die Grenze zwischen Poesie und Prosa neu aus. Sie schärft unsere Aufmerksamkeit für die Vorstellungskraft und das Imaginäre, für die Art und Weise, wie wir Ausdrucksweisen von uns selbst, voneinander und unseren Welten schaffen und damit experimentieren. Das ist das Genre von Rankines erneuerter lyrischer Form: ein Alphabet, das in der Lage ist, sich dem Ansturm des Bewusstseins und des Gefühls und des Hungers, der Dringlichkeit der Bedürftigkeit, dem Mark der Sättigung und dem Flattern der Träume anzunähern. Die Ästhetik ist wiederum eine der Intimität – wobei das Wort Intimität gleichermaßen auf Nähe wie auf Distanz verweist.
„In der Sprache gehört das Wort zur Hälfte jemand anderem“, meint Michail Bachtin. Rankine bedient sich der Tatsache, dass wir Sprache teilen, auch wenn wir sie für uns selbst beanspruchen wollen.
Man könnte Claudia Rankine mit der Information vorstellen, dass sie fünf Lyrikbände geschrieben hat, darunter das 2014 veröffentlichte Citizen: An American Lyric.6 Citizen gilt weithin als eines der wichtigsten Bücher des einundzwanzigsten Jahrhunderts und wurde ausgezeichnet mit dem National Book Critics Circle Award in Poetry, dem PEN Open Book Award, und dem Hurston/Wright Legacy Award in Poetry. Darüber hinaus verfasste Rankine drei Theaterstücke sowie den Essayband Just Us: An American Conversation. Sie war Mitherausgeberin mehrerer Anthologien, darunter The Racial Imaginary: Writers on Race in the Life of the Mind. Sie ist eine herausragende zeitgenössische Künstlerin, deren kreatives Schaffen auch Videoarbeiten und Installationen umfasst. Diese Vielseitigkeit wurde mit Auszeichnungen der Guggenheim Foundation, der Lannan Foundation und der MacArthur Foundation sowie dem National Endowment of the Arts gewürdigt.
Eine solche Vorstellung ist zwar wahr, verfehlt aber das Wesentliche. Vielmehr sollte man sagen, dass Claudia Rankine Kunst macht und über einen tiefgreifenden und tiefgreifend schönen – sowie spielerischen – Intellekt verfügt. Noch besser wäre es zu sagen, dass Rankine, die Kritikerin und Dichterin, ein modernes Wunderwesen ist, das präzise berichtet und uns dazu einlädt, die alltägliche Gnade des Seins und Zusammenseins in der Welt zu erleben.
Text: Kevin Quashie
Übersetzung aus dem Englischen: Anna Jäger
1 A. d. Ü.: Später hinzugefügtes Vorwort in der Neuauflage von Claudia Rankine. Don’t Let Me Be Lonely. An American Lyric, Minneapolis: Graywolf Press, 2024, S. xi.
2A. d. Ü.: Claudia Rankine, Lass Mich Nicht Einsam Sein, aus dem Amerikanischen übertragen von Uda Strätling, Leipzig: Spector Books, 2021, S. 154–55.
3A. d. Ü.: Vorwort von Don’t Let Me Be Lonely, xii.
4Ebd.
5Diese Erkenntnis verdanke ich einem Gespräch mit Rankine sowie Margo Crawfords Untersuchungen der Bücher schwarzer Literatur in What Is African American Literature.
6A. d. R.: Auf Deutsch wurden bei Spector Books die Lyrikbände Citizen (2014) und Lass mich nicht einsam sein (2021) in der Übersetzung von Uda Strätling veröffentlicht. Schreiben als Ressource, ihre Berliner Rede zur Poesie, erscheint im Frühsommer 2025.