Thailand, Film, 2021

Anocha
Suwichakornpong

Photo: Jasper Kettner

Die Menschen in Anocha Suwichakornpongs Filmen sind unscheinbar verloren und verstehen nicht genau, wie ihre heutige Existenz mit Thailands gewalttätiger Vergangenheit zusammenhängt. Die Welt der feministischen, unabhängigen Filmemacherin ist eine Welt der scharfen Kanten und glatten Oberflächen, der nachhallenden Ereignisse und Gesten. Zeit kann sowohl eine Möglichkeit der Veränderung als auch die Endlosschleife eines Zeitalters im Endstadium bedeuten.

Und doch agieren die Menschen in ihrem filmischen Labyrinth, begeben sich geräuschlos und aus unerfindlichen Gründen in unbekannte Gefilde. Ihr Abschlusskurzfilm Graceland (2006) setzt mit zwei Fremden ein, die in einem Auto die Stadt verlassen. Eine mysteriöse Frau fährt einen unbekümmerten Elvis-Imitator immer tiefer und ohne Erklärung in die Finsternis. Die Villa in ihrem ersten Spielfilm Mundane History (2009) wird von Geheimhaltung und Lähmung beherrscht. Der Patriarch und sein verletzter, jugendlicher Sohn sind Figuren, die gleichzeitig Macht und Entropie ausstrahlen. Nach außen hin fügen sich ihre Bediensteten, doch tatsächlich planen sie ihren Abgang.

Ihr bisher bedeutendster Film By the Time It Gets Dark (2016) dreht sich um eine junge Regisseurin, die sich an einem Film über das Massaker an Studierenden und KommunistInnen an der Thammasat-Universität in Bangkok 1976 versucht. Von dieser Ausgangslage aus schafft Anocha ein Labyrinth sich spiegelnder Bilder, in dem sich Film im Film und eine Einstellung in der anderen wiederholen. Wir sehen verschiedene Schauspielerinnen, die die Filmemacherin bei den vorbereitenden Recherchen spielen, um eine Geschichte über die damaligen Vorkommnisse zu schreiben und zu drehen. Wir beobachten scheinbar zusammenhanglose Ereignisse und scheinbar zufällige, unverbundene Figuren, die sich durch instabile Räume bewegen. Mit seiner spiralförmig-abgründigen Struktur, seinen Bildern vom Bildermachen und der mise en abyme der unterschwellig riskanten, angestrengten Versuche der Filmemacherin, Bilder von der Geschichte zu machen, lässt By the Time It Gets Dark den erzählerischen und repräsentativen Status jeder seiner Szenen in eine Frage münden, die klare Unterscheidungen nahezu unmöglich macht.

Anocha Suwichakornpong stellt sich der Verantwortung einer regimekritischen künstlerischen Auseinandersetzung mit der historischen Katastrophe ihres Heimatlandes – eine so behutsame wie ketzerische filmische Äußerung. Sie setzt ihre beachtlichen Fähigkeiten dazu ein, einen indirekten Film zu drehen, der sich weder als virtuelles Denkmal versteht, noch eine alternative Darstellungsform des Massakers anbietet. Stattdessen fiktionalisiert sie ein Scheitern der Repräsentation und thematisiert das Bemühen um ein Wissen, das die Darstellungsmöglichkeiten der Filmemacherin übersteigt. Auf diese Weise dezentriert sie die institutionalisierte und routinemäßig maskulinisierte Sprechweise über das Massaker. Anocha Suwichakornpongs Film unterstreicht die Notwendigkeit, das Erbe des Oktober-Massakers in der Zukunft und für die Zukunft zu vermitteln, indem sie bestehende Formen und sprachliche Konventionen problematisiert.

Für ihren ästhetischen Beitrag zum zeitgenössischen Kino und für die feministische Vorbildfunktion, die sie als Mentorin, Lehrerin und Unterstützerin von FilmemacherInnen und Studierenden in Thailand und darüber hinaus verkörpert, wurde Anocha Suwichakornpong 2019 mit dem Prinz-Claus-Preis ausgezeichnet.

Die Künstlerin, die auf der Untrennbarkeit von Kunst und Leben beharrt, beginnt dieses Jahrzehnt, das Jahr, in dem sich die Welt so drastisch drehte, als Mutter. Wie sich dieser Sprung ins Ungewisse in ihren zukünftigen künstlerischen Äußerungen niederschlägt, bleibt spannend.

Text: May Adadol Ingawanij
Übersetzung: Anna Jäger

Vergangen

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