Name Erik Lindner |
Land Niederlande |
Manche erkennen in Erik Lindners Poesie und Poetik eine Nähe zu Walter Benjamins Wahrnehmungsbegriff. Tatsächlich findet sich in seinem ersten Band Tramontane, dessen Titel den unbarmherzigen Fallwind im südfranzösischen Hochland benennt, im Gedicht „18. September 1994“ eine unmittelbare Anspielung auf das tragische Ende des großen Kunstphilosophen: „In Port Bou stirbt nichts bereitwillig.“ Beschrieben wird ein heißer Tag im Schatten von Olivenbäumen, auf einer uralten Steinbank, mit Blick auf die windgepeitschte See, die im Licht einer trägen Sonne in allen Blau- und Gelbtönen aufwirbelt. Die in jeder Hinsicht gewaltige Schönheit des Naturspektakels ist zeitlos, doch der Schauplatz – mit dem 1994 errichteten Benjamin-Denkmal aus rostigem Stahl – verweist auf eines der dunkelsten Kapitel europäischer Geschichte. Den Betrachter fröstelt es trotz sengender Sonne im Wind, dem alles zum Spielball wird. Bemerkenswert, wie souverän zurückhaltend der Dichter mit seinem heiklen Sujet umgeht, eine Zurückhaltung, die sich im Lauf der Zeit noch stärker auszuprägen scheint und dabei umso größere Aussagekraft entfaltet.
Die Natur ist in seinem Werk stets präsent, immer auf den Betrachter – also auf den Menschen – bezogen, ohne ihre Autonomie zu verlieren. Es fällt auf, wie aktiv sie ist, welche schöpferische (und zerstörerische) Macht sie hat. Vom tosenden Wind im bereits erwähnten Gedicht, der Meer und Fels fast künstlergleich bearbeitet, zum zehn Jahre später veröffentlichten „Ein Mann isst einen Apfel im Park“, in dem sich die Bäume über den Mann beugen, das Gras sich um seine Füße drängelt und der Weiher Pflanzen ans Ufer drückt (deutsche Übersetzung: Gregor Seferens), tritt eine Natur in Erscheinung, die dem Menschen viel näher ist, als uns modernen westlichen Städtern bewusst wird. Dabei ragt sie über die Grenzen menschlicher Wahrnehmung und menschlichen Daseins hinaus, ohne dass Lindners Werk einen explizit religiösen oder metaphysischen Gehalt aufwiese. So kommt man dem Geheimnis, das diesen oft hell ausgeleuchteten, so glasklar, zuweilen so karg anmutenden Gedichten innewohnt, vielleicht wirklich am besten mit Benjamins Aura-Begriff auf die Spur.
Lindners poetisches Universum enthält nicht nur Landschaften (ob im Süden oder Norden, am Strand von Marseille, Piräus oder Ostende), sondern auch Räume, Gegenstände, die ein Eigenleben entwickeln können, wie jener Schrank mit der Spiegeltür, der in „Diese Esform passt irgendwo“ auf die Protagonistin fällt, sodass ihr eigenes Spiegelbild sich über sie beugt (Ü: Gregor Seferens). Bei diesem Dichter gerät alles in Bewegung, wechselt die Perspektive unversehens, werden laufend neue Assoziationen ausgelöst. Der Kritiker Paul Demets vergleicht seine Verfahrensweise mit der einer Filmkamera, die zwischen Totale und Naheinstellung wechselt. Als bilde er Bewegung an sich ab, die sich eigentlich nicht in Sprache fassen lässt. Aus Lindners ganzem Werk spricht allerdings der Glaube an die Macht des Sehens und an eine sinnstiftende Kraft des Wortes, mag er beides hier oder da auch hinterfragen, wenn von „kleinen Irrtümern, einer schlichten optischen Täuschung“ die Rede ist oder im Gedicht „Pastille de menthe“ die erste Zeile lautet: „Nicht ich lüge, sondern das Wort, weißt du.“
Text: Patricia Klobusiczky